A. Kraus u.a. (Hrsg.): Geschichte als Passion

Cover
Titel
Geschichte als Passion. Über das Entdecken und Erzählen der Vergangenheit. Zehn Gespräche


Herausgeber
Steinecke, Ernst-Christian; Birte, Kohtz
Erschienen
Frankfurt 2011: Campus Verlag
Anzahl Seiten
348 S.
Preis
URL
von
Ernst-Christian Steinecke, Freiburg im Breisgau

Nicht von ungefähr nimmt dieser Band seine Leser mit auf eine Reise hinter die Kulissen der Geschichtswissenschaften. Schliesslich streben die beiden Herausgeber Alexander Kraus und Birte Kohtz explizit eine «am scheinbaren Klein-Klein der Arbeitspraxis und nicht an den grossen Fragen der Theorie und Methodik orientierte Auseinandersetzung» mit den Entstehungsprozessen historischer Erkenntnis an. Ebenso originell wie dieses Thema selbst ist dabei der Ansatz, den die beiden Doktoranden zu seiner Bearbeitung gewählt haben: So wird der Frage, welche Alltagspraktiken den Ergebnissen historischer Forschung zugrunde liegen, nicht im Rahmen von Methodenessays nachgegangen. Stattdessen stehen Beteiligte den Herausgebern Rede und Antwort. Einer theoretisch fundierten Einführung in die Thematik folgen also zehn Werkstattgespräche mit Fachvertretern, die sich im Grundtenor zwar ähneln, im Detail aber durchaus polyphon ausfallen. Mit der Vielfalt an Stimmen hält diejenige der Meinungen und Erfahrungen im vorliegenden Buch jedenfalls problemlos Schritt. Und so wird man nach der Lektüre an der Existenz eines Königswegs zur Ermittlung historischer Sachverhalte berechtigte Zweifel haben. Sollten derlei Zweifel eine reflexivierte Einstellung gegenüber den Idiosynkrasien der eigenen Forschungsarbeit nach sich ziehen, entspräche dies durchaus dem Anliegen der Herausgeber. Denn die Ausgangsthese des Bandes lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass die ‘normaltypische’ historische Forschung und ihr aus Methodenhandbüchern vertrautes ‘idealtypisches’ Double sich so zueinander verhalten wie zwei komplementäre Zustände, die der Molekularbiologe François Jacob einmal als ‘Nacht- und Tagwissenschaft’ bezeichnet hat. Während die Tagwissenschaft vorgibt, für alle Problemstellungen passende Mittel an die Hand geben zu können und im Vorhinein schon zu wissen, was sie im Nachhinein herausfinden wird, ist die Nachtwissenschaft das glatte Gegenteil: Sie lebt von der Bastelei, der Suche nach fehlenden argumentativen Verknüpfungen und davon, sich durch entscheidende Einfälle überraschen zu lassen. Derartigen ‘Nachtaktivitäten’ in der Geschichtswissenschaft der Gegenwart spürt der vorliegende Band nach.

Damit knüpfen die Herausgeber an eine ‘praxeologische’ Forschungsrichtung an, die zahlreiche wissenschaftsgeschichtliche und -soziologische Arbeiten der vergangenen Jahre geprägt hat. In Anlehnung an Science in Action, einen Buchtitel von Bruno Latour, der den methodischen Grundzug dieser Forschungsrichtung auf einen Nenner bringt, könnte man den vorliegenden Band als einen Beitrag zur Untersuchung von History in Action begreifen. Nur lassen sich die zehn Historiker im Unterschied zu den von Latour beobachteten Laborwissenschaftlern nicht direkt bei der alltäglichen Arbeit, also etwa beim Akt des Schreibens, über die Schulter schauen. Dafür berichten sie im Gespräch umso freimütiger, was sie eigentlich ‘tun’, wenn sie Forschung betreiben: Julia Voss etwa, Leiterin des Kunstressorts beim Feuilleton der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung », betont den hohen Stellenwert visuellen Denkens für ihre Arbeit. Beispielhaft führt sie ihre Vorliebe für diagrammatische Formen der Notizführung an, die ihr helfen, eigene Gedanken als «Feld» oder «Mindmap» vor Augen zu haben. Um Archivierungstechniken geht es beim Interview mit der Wissenschaftshistorikerin Anke te Heesen. Diese verrät nicht nur, dass sie im Rahmen eigener Forschungen die Umbruchsituation zwischen analogen und digitalen Archivierungstechniken in den Blick nehmen wird. Sie erzählt auch, dass sie selbst mit einer Literaturdatenbank nicht auskomme, sondern weiterhin Papier staple, um die auf Kopien hinterlassenen Bearbeitungsspuren nutzen zu können. Valentin Groebner, der in Luzern Geschichte des Mittelalters und der Renaissance lehrt, verlässt sich auf einen elektronischen Zettelkasten, der zwar regelmässig ‘gefüttert’ werden will, dafür aber beim ‘Stöbern’ dann und wann längst vergessene Fundstücke wieder zu Tage fördert. Dass Historiker solche Programme nicht nur nutzen, sondern an deren Erarbeitung mitwirken können, zeigt das Beispiel des Zürcher Historikers Philipp Sarasin. In hohem Masse raum- und landschaftsbezogen stellen sich dagegen die Forschungen des Osteuropa-Historikers Carsten Goehrke sowie des Amerikanisten und Umwelthistorikers Christoph Mauch dar. Beide streichen im Interview die Wichtigkeit historischer Autopsie, aber auch solcher Hilfsmittel wie Karten und Luftbilder klar heraus. Simone Blaschka-Eick, die Direktorin des Deutschen Auswandererhauses in Bremerhaven, ergänzt das bis hierhin schon sehr bunte Bild der Geschichtswissenschaften mit ihren Bemerkungen zur Aussagekraft und Ausstellungstauglichkeit von Zahlen und Statistiken um eine weitere Facette. Vor allem auf die Kunst des Exzerpierens hebt hingegen die Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston ab. Textabschriften und Notizen liessen sich erstaunlich oft verknappen, bis man mit den Exzerpten von Exzerpten über eine verwertbare ‘Destillation’ eigener Materialsammlungen verfüge. Die Medizinhistorikerin Ulrike Klöppel hat sogar ein ausgefeiltes Stichwortsystem zu ihren Notizsammlungen angelegt, um die Arbeit mit ihnen zu erleichtern. Der Biologe und Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger indes gibt zu, dass er nie über den Versuch, eine Zettelwirtschaft anzulegen, hinausgekommen sei.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die in der Interviewform begründete Heterogenität und Assoziativität der Inhalte sich als Stärke des Bandes erweist. Der heuristische Ertrag beruht dabei mehr noch auf den Fragen, die gestellt, als auf den Antworten, die gegeben werden. Doch regt die Lektüre nicht nur zum Mit-, Nach- und Weiterdenken an. Sie unterhält obendrein bestens. Auch die Idee, jedem Gespräch eine Fotographie vom Schreibtisch der befragten Person oder von einem für diese Person spezifischen Objekt voranzustellen und dadurch die topographische Dimension historischer Forschungspraxis in Ausschnitten sichtbar zu machen, passt ins Konzept. Kleinere Wermutstropfen aber gibt es: Wer die Online-Zeitschrift Zeitenblicke kennt, deren Ausgabe 9/2 Kraus und Kohtz ebenfalls mitherausgegeben haben und die unter anderem das im vorliegenden Band erneut abgedruckte Interview mit Philipp Sarasin enthält, wird das Gespräch mit Karl Schlögel und dessen eindringliches Plädoyer für mehr historische Autopsie vermissen. So nämlich tritt abgesehen von den Gesprächen mit Goehlke und Mauch die ‘Augenarbeit’ vor Ort über weite Strecken ganz hinter die Arbeit an und mit Texten zurück. History in Action bleibt zumeist Historiography in Action. Dabei stünde es dem Interviewband gut an, wenn dem Untertitel entsprechend neben dem Erzählen auch das Entdecken der Vergangenheit noch schärfer in den Blick genommen worden wäre. Die Tatsache, dass das vorliegende Buch eine Bereicherung darstellt, wird dadurch nicht geschmälert, empfiehlt es sich doch prinzipiell jedem Schreib- und Wissenschaftsinteressierten zur Lektüre. Zumal unter Studierenden ist ihm eine breite Rezeption zu wünschen. Schliesslich gibt es ein Plädoyer, das den Band beständig durchzieht und besonders für ihre Ohren bestimmt sein dürfte: In der Praxis ist jede Methode immer nur so gut wie ihr «Potential zur Selbstüberlistung».

Zitierweise:
Ernst-Christian Steinecke: Rezension zu: Alexander Kraus, Birte Kohtz (Hg.): Geschichte als Passion. Über das Entdecken und Erzählen der Vergangenheit. Zehn Gespräche. Frankfurt, Campus Verlag, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 61 Nr. 4, 2011, S. 501-503